Sonntag, 12. Mai 2019

Die goldene Mitte


                                                                                                       
Es mag mehr als zwanzig Jahre im vergangenen Jahrhundert zurückliegen - kommt Leute, das schafft man auch ohne bestandenes Mathe Abi -, da kam dem normalen, nichts Böses ahnenden Restaurantbesucher ein neuer Begriff unter, der im Nachhinein bei mir noch Grausen hervorruft. Es liegt nicht am Begriff selbst, der war eigentlich recht positiv gemeint. Nein, die Folge daraus war des Pudels Kern. Es fehlte etwas für mich ganz Entscheidendes am Essen: das Sattwerden.

„Nouvelle Cuisine“ nannte sich dieses alles durchdringende Schlagwort, bei dem sich nur wenige alteingesessene Restaurants mit Stammtischen, kupfernen Lampen und Skat-Kassen an der Wand trauten, seit Generationen bewährte Speisekarten weiter aufzulegen. Seien sie im Nachhinein hier nochmal ausdrücklich gepriesen!

Was sich hinter dem Begriff wirklich verbarg, blieb für viele aushäusige Verzehrer auch nach Jahren noch ein Geheimnis, weil viele Restaurants, in denen sie einkehrten, das Thema komplett verdrehten.

Ursprünglich gedacht als das, was man in Wikipedia leicht nachlesen kann und hier deswegen nicht mit einem Schein von selbstständigem Wissen meinerseits belegt werden soll, diente es bei den Anwendern häufig dazu, nur eines zu ändern: die servierten Mengen.

Frische Ware, kurze Kochzeiten, viel Eigengeschmack – so das offizielle Credo der Apostel dieser Richtung.

Eine Einladung an die Bleistiftspitzer unter vielen Restaurantbetreibern, sofort vom Tranchierwagen für das Rinderfilet Abstand zu nehmen. Stattdessen stellte man einen Hofdesigner ein, der 23 Gramm Fleisch, eine halbe Broccoli-Rose und einen Teelöffel Jus auf dem Teller zu einem vier Zentimeter hohen Turm drapierte. 
Kamen dann livrierte Herren beim runden Tisch einer erwartungsvoll dreinblickenden, hungrigen sechsköpfigen Gesellschaft an und stellten die Teller, natürlich inclusive einer Gloche, also diesen silbernen Servierglocken zum Warmhalten, vor den Gästen ab, war Spannung angesagt. Auf ein Zeichen lüfteten die Schwarzberockten dann gleichzeitig alle die Glocken. 

In einer gutbesuchten bayerischen Gaststätte würde es beim Servieren von sechs Schweinshaxen mit Kraut und Püree „Aaaahhhh“ machen. Das vielleicht auch wegen der drallen Kellnerinnen, aber das steht auf einem anderen Blatt.

In einem Nouvelle Cuisine infizierten Etablissement machte es dann „ööööhhh?“ Was sich vor den Augen der Gäste abspielte, tja: Theo Lingen, ein bekannter Filmkomiker aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, hätte bei diesem Anblick ein für ihn bekanntes, sehr näselndes „Traurig, traurig, traurig“ angestimmt.

Nun gab es immer zwei Möglichkeiten. Entweder man wartete auf ein erlösendes „Ein Gruß aus der Küche“ und konnte sich beruhigt auf die eineinhalb Gabeln stürzen, weil ja noch was kam.
Oder, ganz schlimm, man war eingeladen und durfte natürlich nichts Schlechtes über das Essen verlauten lassen, weil ja der (ebenfalls hungrige) Gastgeber mit am Tisch saß. Vorsichtige Blicke in die Runde ließen einen dann ertasten, wie der Rest der Meute dachte. 

Tatsächlich teilten sich dann die Lager. Der kulturell möchtegern beflissene Teil der Runde bewunderte zunächst die optisch so gelungene Komposition des mickrigen Häufleins, schnitt dann ein Pfenniggroßes Stück Broccoli ab, schob es langsam in den Mund und verdrehte ad hoc orgiastisch ob der „jetzt endlich mal in seiner ganzen Ursprünglichkeit zu vernehmenden Klangvielfalt von Gemüse“ die Augen.
Der andere Teil, also meist ich, zupfte einen der hinter mir aufgereihten Frackträger und fragte nach einem Nachschlag. Meist war ich dadurch in aller Augen als Mitglied der sich dann spontan gründenden „Oh wie toll ist das denn“-Gruppe disqualifiziert.

Da sich auch die hartgesottensten Verfolger dieser Küchenrichtung nach nur einem Gang nicht auf die Straße getraut hätten, tat sich unter fünf bis sechs Gängen meist nichts. Die Folge: fünf „Ööööhhhs“. 

Der Abend endete meist für mich bei einer Currywurst mit Pommes oder ähnlichen, Genugtuung versprechenden Highlights in irgendeiner Fritten Schmiede. Ab und zu traf man dort auch tapfere Mitstreiter, die man vorher am Nebentisch im Restaurant entdeckt hatte; dann hob man sich aus der Ferne die Flasche Pils zum verständnisvollen „Prost“ entgegen.

Warum schreibe ich das überhaupt?

Schlimmeres als Vorgenanntes spielt sich momentan in manchen Küchengruppen bei Facebook ab. In den letzten Monaten scheint ein Ruck durchs fressende Volk zu gehen, der da heißt: größer, höher, schwerer.

Der höchste Burger (40 cm, dann kippt er) die dicksten Braten, das schwerste Steak („alles unter 750 Gramm ist Carpaccio"), die Schnitzel in quadratmetergroßen Flächen, die Pizza in Beistelltischgröße unter zusätzlich einem Kilo Spaghetti begraben…alles das wird mit Menschen gezeigt, die sich augenscheinlich freuen, wenn so etwas „serviert“ wird. Wo das Essen fünfzehn Minuten später landet, sobald die Handykamera aus ist, will ich gar nicht wissen. Die Container im Hinterhof des „Restaurants“ sprechen wahrscheinlich Bände.

Es widert mich ehrlich gesagt an, dass es solche Nahrungsmittelunfälle überhaupt gibt. Ich will jetzt gar nicht mit armen Negerkindern in Afrika anfangen, aber auch der Blick um die eigene Hausecke sollte einem solche Exzesse ebenfalls verbieten.

Daher die Überschrift. Gute Portionen, leckere Küche ohne Schnick Schnack: ist das so schwer?

Keine Kommentare: